Luftfahrtgeschichte: Auf den Spuren Lilienthals (2025)

Die Bahn fährt hier immer noch entlang. Aber sie dampft und rattert nicht mehr, sie rauscht nur noch. Und die Sandkuhle ist auch noch da. Jener Ort, an dem sich der Mensch vor mehr als 130 Jahren anschickte, endlich den Himmel zu erobern. Heute machen das hier die vielen Robinien und Kiefern. Und ein paar größere Eichen, die womöglich schon hier waren, als Otto Lilienthal 1891 mit seinem Apparat aus Holz und Stoff an der Abbruchkante stand und sich zum ersten Mal abstieß. Genau hier ist es passiert. Im Dörfchen Derwitz im heutigen Bundesland Brandenburg.

Der Name Otto Lilienthal ist vielen Deutschen bis heute geläufig. "Irgendwas mit Fliegen", wäre wahrscheinlich die häufigste Antwort, wenn man zu diesem Thema eine Straßen-umfrage machte. Aber das wär’s auch schon. Kaum jemand wüsste, dass von Lilienthals Geschwistern die meisten schon als Kinder starben, weil die Eltern arm waren. Kaum jemand könnte erzählen, dass Otto und sein Bruder Gustav sich schon als Kinder das erste Flügelpaar bastelten, mit dem sie wie die Störche auf den Wiesen vor den Toren ihrer Heimatstadt Anklam abheben wollten. Dass Lilienthal später in Berlin, noch weit vor seiner Zeit als Flugpionier, zum erfolgreichen Unternehmer wurde. Dass er in diesen Jahren zahlreiche Patente auf die erstaunlichsten Erfindungen hielt, die nichts mit Fliegerei zu tun hatten. Dass er seine Mitarbeiter an den Gewinnen der Firma beteiligte – und auch damit ein absoluter Pionier war. Dass Lilienthal in Berlin ein Theater übernahm und nur wenige Pfennige Eintritt verlangte, um auch armen Menschen einen Zugang zur Kultur zu ermöglichen. Vielleicht wüssten einige wenige, dass es Otto Lilienthal war, der das Wort "Flugzeug" erfand. Und dass er sich viele Jahre äußerst gründlich mit der Theorie des Fliegens befasste, bevor er sich, abgesehen von seinen Flugversuchen als Kind, endlich an die Praxis heranwagte.

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Lilienthal mit einem seiner Fluggeräte in Derwitz.

Der Berg an der Eisenbahnlinie

Dass die ersten Flüge ausgerechnet in Derwitz passierten, hatte wohl mit Pfarrer Carl Otto Bournot zu tun, der hier im Havelland bis in die späten 80er Jahre des 19. Jahrhunderts seinem Beruf nachging und zufällig der Onkel von Otto Lilienthals Schwägerin war. "Der Gedanke liegt nahe, dass Lilienthal durch diese Verwandtschaft auf den Windmühlenberg aufmerksam geworden ist, der sich nördlich des Dorfes direkt vor der Eisenbahnlinie erhebt", schreibt Lilienthal-Biograf Werner Schwipps in seinem Buch "Der Mensch fliegt".

Besagte Erhebung heißt eigentlich "Spitzer Berg" oder Spitzberg, wird im Dorf aber bis heute auch Windmühlenberg genannt, weil auf seinem westlichen Ausläufer über viele Jahrzehnte, auch zu Lilienthals Zeiten, eine Windmühle stand. Der "Berg" ist genau betrachtet eine jener Sanddünen, die im Havelland damals wie heute unvermittelt aus der Ebene aufragen. Die Derwitzer Düne fällt nach allen Himmelsrichtungen sanft ab und war zu Lilienthals Zeit nur mit Heidekraut und Gras bewachsen, von etwas niedrigem Buschwerk abgesehen. In ihrem Inneren wurde Sand abgebaut. Lilienthal muss die Erhebung und die Sandkuhle jedes Mal gesehen haben, wenn er von Berlin aus mit der Bahn anreiste. Im Sommer 1891 brachte der Pionier seinen Flugapparat hierher. Eine Woche vorher hatte er mit dem örtlichen Müller Hermann Schwach über das Unterstellen des Apparates verhandelt. Der Müller – das ist belegt – holte Lilienthal und sein Fluggerät mit dem Fuhrwerk von der Bahnstation in Groß Kreutz ab. Nach Derwitz hatten sie etwa drei oder vier Kilometer zurückzufahren. Dann stellten sie den Flugapparat in der Scheune des Müllers ab. Wohnhaus und Scheune lagen etwa 100 Meter unterhalb der Mühle am Westhang des Berges.

Spannweite 7,50, Flügeltiefe zwei Meter

"Es war der gleiche Flugapparat, mit dem Lilienthal im Garten seines Hauses in Berlin bereits den Absprung geübt hatte", schreibt Werner Schwipps in seinem Buch. "Er hatte die Gestalt ausgebreiteter Vogelflügel, seine Spannweite betrug 7,50 Meter, die größte Flügeltiefe zwei Meter. Die Flügelfläche war anfangs zehn Quadratmeter groß, verringerte sich aber durch mehrfache Änderungen und Reparaturen auf acht Quadratmeter. Jeder Flügel hatte zwei Holme aus starken Weidenruten, die von der Wurzel bis zur Spitze reichten. Darüber waren je 14 schwächere Ruten als Rippen in Flugrichtung gelegt. Wichtig: Die Rippen waren gekrümmt und gaben der Fläche so die gewünschte Wölbung. Die Bespannung der Tragflächen bestand aus Schirting, einem Baumwollstoff mit Lacküberzug. Das Gewicht betrug etwa 18 Kilogramm. Während der Derwitzer Versuche erhielt der Apparat eine zusätzliche horizontale Schwanzfläche, die auf gleiche Weise wie die vertikale Schwanz-flosse stabilisierend wirkte. Sie war gleich hinter der Flügelhinterkante und noch vor dem senkrechten Leitwerk angebracht.

Der Apparat hatte erstmals das für alle späteren Lilienthal-Gleiter typische Holm- oder Gestellkreuz. Mit Hilfe zweier gekreuzter Vierkanthölzer wurden die beiden Flügelhälften in der Mitte zusammengesteckt. Am Holmkreuz waren auch die beiden Manschetten angebracht, durch die Lilienthal seine Unterarme steckte, um den Flugapparat aufzunehmen. Mit den Händen hielt er im sogenannten Kammgriff oder Untergriff, mit dem Handrücken nach unten, die aus den Flügeln herausragenden Endstücke der vorderen Holme umfasst. Dadurch hatte er den Flugapparat vollkommen in der Gewalt und konnte sich mit den Unterarmen im Fluge auf ihn stützen.

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Lilienthal Museum

Der Flügelschlagapparat erwies sich als nicht besonders erfolgreich.

Bei Gefahr einfach fallen lassen

Gesteuert wurde der Apparat, wie auch alle späteren Lilienthal-Modelle, ausschließlich durch Verlegung des Schwerpunktes, und das wiederum bewirkte Lilienthal durch die Ver-lagerung seines Körpergewichts, indem er die Beine nach rechts oder links, nach vorn und nach hinten streckte. Der Unterkörper war für solche Bewegungen ganz frei, denn Lilienthal stützte sich ausschließlich auf die Unterarme. Das hatte zudem den Vorteil, dass er sich bei Gefahr aus dem Flugapparat herausfallen lassen konnte – was er ab und an auch tat.

Lilienthal selbst erzählte auf einem seiner Vorträge vor dem Verein zur Förderung der Luftschifffahrt: "Fast allsonntäglich und auch, wenn meine Zeit es in der Woche irgend erlaubte, befand ich mich auf dem Übungsterrain (…), um auf den dortigen Hügeln (…) den Segelflug gegen den Wind zu üben. Ein Techniker meiner Maschinenfabrik, Herr Hugo Eulitz, und ich wechselten uns derart ab, dass der eine vom Berge herab segelte und gleich darauf den Apparat wieder zur Höhe trug, während der andere sich ausgeruht hatte und sofort einen neuen Sprung vornahm. Die Übungszeit wurde hierdurch vollkommen ausgenützt. Herr Eulitz und ich erlangten dadurch die Fertigkeit, bei mäßigem Winde an den sanften Bergabhängen in der Luft hinabzugleiten und am Fuße des Berges ohne jeden Unfall zu landen." Aus einer Absprunghöhe von fünf bis sechs Metern ergaben sich seinerzeit Flugweiten von bis zu 25 Metern. Dem damals noch jungen Meteorologen Carl Kassner, der mit seiner Kamera diverse Male vor Ort war, ist es zu verdanken, dass es von diesen Versuchen zahlreiche beeindruckende Fotos gibt, die das von Lilienthal Geschilderte zweifelsfrei belegen. Es handelt sich dabei um die ersten Aufnahmen eines fliegenden Menschen.

Von wo ist er gestartet?

Wer sich heute in der mittlerweile üppig bewaldeten Sandkuhle umschaut, stellt fest, dass es gleich zwei Abbruchkanten gibt, die für die Nachwelt als Absprungstelle für Lilienthals erste Flüge herhalten müssen: eine offizielle mit Schautafel und großem Gedenkstein auf Derwitzer Terrain und eine inoffizielle auf dem Gebiet des Nachbardorfes Krielow, auf die nur mit einem improvisierten und sehr unauffällig platzierten Holzschildchen hingewiesen wird. Welches ist denn nun die echte Absprungstelle? Später mehr dazu.

Alles andere als klein und unauffällig ist das Lilienthal-Denkmal zwischen der Sandkuhle und dem einstigen Standort der Windmühle: ein stilisierter und sehr großer Gleiter des Künstlers Wilfried Statt. Das Monument aus Edelstahl mit steinernem Sockel wurde hier im Jahr 1991 von einem Hubschrauber eingeflogen.

Sehr klein wiederum ist das Lilienthal-Gedenkhaus unten im Dorf. Und an vielen Tagen verriegelt und verrammelt. Hineingucken kann man nicht. Schade. Im Fenster hängt ein kleiner Zettel mit der Handynummer von Heinz Grützmacher – für spontane Führungen. "Ich komme. Ich wohne gleich um die Ecke. In drei Minuten bin ich da", sagt er. Ein paar Minuten später schließt er die Tür zu dem Häuschen auf. "Das gehörte ganz früher mal zur örtlichen Feuerwehr und war schon ziemlich verfallen", erzählt er. Als sich dann 1991 der 100. Jahrestag des "Menschenflugs" näherte, habe man sich des Gebäudes angenommen und es wieder ein bisschen herausgeputzt.

Kleines, feines Museum

"Klein, aber fein", findet Grützmacher. Und er hat recht. Gleich am Eingang steht das Denkmal vom Spitzberg noch mal in etwas bescheidenerer Ausführung. "Vom gleichen Künstler. Der ist übrigens mittlerweile ein Mönch", weiß der Mann aus dem Dorf zu berichten. Einige Stellwände mit den berühmten Aufnahmen von Carl Kassner sind hier zu sehen. Unter der Decke hängt ein Modell-nachbau vom Derwitzer Apparat. "Maßstab 1:2", sagt Grützmacher. Es gebe noch einen weiteren Nachbau in Originalgröße, "aber der passte hier nicht rein, der hängt jetzt in einer großen Betriebshalle." 2016, zum 125-Jährigen, habe man diesen Gleiter auf einer großen Feier der Dorfbevölkerung präsentiert. "Da sind schöne Bilder entstanden", sagt der Mann aus dem Dorf und zeigt auf eine weitere kleine Fotowand. Hat man den Gleiter denn mal zum Windmühlenberg hinübergetragen? Und vielleicht sogar ein paar Sprünge damit gewagt? "Nein, nein", sagt Grützmacher, schüttelt den Kopf und lacht.

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Meiko Haselhorst

Ein kleines, feines Museum.

"Das war’s auch schon zum Thema Lilienthal. Ich kann Ihnen noch unsere Totenkronen in der Kirche zeigen. Bei uns nennen wir sie Schlummerkissen. Die haben wir vor einigen Jahren auf dem Dachboden gefunden. Eine alte Kirchentradition hier in der Region", wechselt Heinz Grützmacher das Thema. Als Vorsitzender der Förderkreise Lilienthal und Kirche hat er immer beides auf dem Schirm.Von wo aber ist er nun geflogen?

Eine Frage noch, bevor es zu den Totenkronen geht: Was hat es denn nun mit den zwei Absprungstellen in der Sandkuhle auf sich? Grützmacher lächelt und erklärt: "Die wirkliche Absprungstelle gibt es heute gar nicht mehr, da hat man in den Jahrzehnten nach Lilienthal noch jede Menge Sand abgebaut. Man hat sich jetzt halt für diese neu entstandene Abbruchkante entschieden. Irgendwo musste man die Tafel ja schließlich aufstellen." Und was ist mit der anderen angeblichen Absprungstelle, der auf Krielower Seite? "Ein Hobby-Historiker will herausgefunden haben, dass Lilienthal in Wirklichkeit dort abgesprungen ist", sagt Grützmacher. Und wie wahrscheinlich ist das? "Möglich ist es. Die Kante hat es dort jedenfalls schon damals gegeben. Aber so richtig wird man das wohl nicht mehr herausfinden."

Derwitz wird zu klein

Otto Lilienthal jedenfalls hat Derwitz schon nach relativ kurzer Zeit wieder den Rücken gekehrt. Einen Bericht über die dortigen Flüge schloss er mit den Worten: "Das Übungsterrain an der besagten Stelle gestattete nun nicht, größere Strecken von größeren Höhen aus zu durchfliegen; ich bin daher genötigt, für die Fortsetzung dieser Versuche ein anderes Terrain aufzusuchen, um auch den Sprung von noch größeren Höhen und den Flug für größere Entfernung zu üben. Immerhin konnte man durch die bisherigen Versuche die Überzeugung gewinnen, dass der schräg abwärts geführte Segelflug mit einem sehr einfachen Apparat sich ausüben und für beliebige Höhen gefahrlos einüben lässt."

Der Rest ist Geschichte. Otto Lilienthal baute noch zahlreiche weitere und größere Gleiter, manche Modelle sogar in Serie und für den Verkauf. In den rund fünf Jahren, die er noch leben und fliegen durfte, legte er an verschiedenen Orten in Berlin und Brandenburg weit über 2000 Gleitflüge hin. Bis zu 300 Meter weit trugen ihn seine Geräte. Am Gollenberg in Stölln gelang ihm eine erste Kehrtwende mit Rückkehr zum Hang. Um gegen den Wind landen zu können, musste er sogar noch eine zweite Kehrtwende vollführen, was ihm ebenfalls glückte.

Am Gollenberg schlug auch sein letztes Stündlein: Am 9. August 1896 verlor er in einer "Sonnenbö" – heute würde man von einer thermischen Ablösung sprechen, von der man damals aber noch nichts wusste – die Kon-trolle über seinen Flugapparat. Er stürzte ab und erlag am Folgetag seinen Verletzungen. Otto Lilienthal wurde 48 Jahre alt.

In Deutschland nahm man vom Tod des wunderlichen "Vogelmannes" zunächst wenig Notiz. Die Fachwelt hingegen wusste schon damals, wen sie verloren hatte: den ersten echten Piloten der Menschheitsgeschichte. Oder etwas korrekter formuliert: den ersten Menschen, der – auch dank der technisch fortgeschrittenen Fotografie – zweifelsfrei und beliebig oft belegen konnte, dass er die Kunst des Fliegens beherrschte.

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DLR

Wie gut Lilienthals Konstruktionen funktionierten, zeigt nicht zuletzt der Gleiter-Nachbau des DLR.

Nachwirkung – bis heute

Zahllose spätere Flugpioniere, auch die Gebrüder Wright, stützten sich in ihren Berechnungen und praktischen Versuchen auf die von Lilienthal geleistete Vorarbeit. Zumindest in Deutschland gilt er heute als unumstrittener Vater der Fliegerei. Man kann es kurz und bündig ausdrücken, so wie Werner Schwipps: "Der Mensch fliegt." Man kann es aber auch etwas feierlicher formulieren, so wie der spätere französische Flugpionier und Lilienthal-Verehrer Ferdinand Ferber: "Den Tag des Jahres 1891, an dem Otto Lilienthal die ersten 15 Meter in der Luft durchmessen hat, fasse ich auf als den Augenblick, an dem die Menschheit das Fliegen erlernt hat." Und hier im Dörfchen Derwitz ist es passiert. Oder doch in Krielow? Egal – auf jeden Fall in der Sandkuhle an der Bahntrasse.

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